Wahrheit und Wirklichkeit

An den Rändern des Realen

 

Traumwelt und Welt des Erwachens, Wahrheit und Erkenntnis, Wirklichkeit und Wahrnehmung – die tiefsten philosophischen Kategorien führen uns in die Erforschung der Natur des Menschen. Der Philosoph Walter Benjamin drang so tief wie kaum ein anderer in die inneren Kammern des menschlichen Bewusstseins vor.

Was das Problem der Traumwirklichkeit betrifft, so ist festzustellen: die Bestimmung des Verhältnisses der Traumwelt zur Welt des Erwachens, das heißt der wirklichen Welt, ist streng von der Untersuchung seines Verhältnisses zur wahren Welt zu unterscheiden. In Wahrheit oder in der »wahren Welt« gibt es Traum und Wachen als solche überhaupt nicht mehr; sie mögen höchstens Symbol ihrer Darstellung sein. Denn in der Welt der Wahrheit hat die Welt der Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit verloren. Ja, vielleicht ist die Welt der Wahrheit überhaupt nicht Welt irgendeines Bewusstseins. Damit soll gesagt sein: das Problem des Verhältnisses von Traum zum Wachen ist kein »erkenntnistheoretisches« sondern ein »wahrnehmungstheoretisches«. Wahrnehmungen aber können nicht wahr oder falsch sein, sondern sind problematisch nur hinsichtlich der Zuständigkeit ihres Bedeutungsgehalts. Das System solcher möglichen Zuständigkeiten überhaupt ist die Natur des Menschen. Problem ist hier also, was in der Natur des Menschen den Bedeutungsgehalt der Traumwahrnehmung, was in ihr den der wachen Wahrnehmung betreffe. Für die »Erkenntnis« sind beide auf genau die gleiche Weise, nämlich lediglich als Objekte, belangvoll.
Insbesondere ist der Wahrnehmung gegenüber die übliche Fragestellung nach der Überlegenheit einer dieser Wahrnehmungsarten gemäß dem größeren Reichtum der Kriterien, denen gegenüber sie stichhaltige, sinnlos, weil erst aufgezeigt werden müsste 1) dass es Bewusstsein von Wahrheit überhaupt gibt 2) dass es durch ein solches Stichhalten einer relativen Mehrzahl von Kriterien gegenüber gekennzeichnet sei. In Wirklichkeit ist 1) die Komparation in wahrheitstheoretischen Untersuchungen sinnlos 2) für das Bewusstsein überhaupt zunächst einzig die Beziehung zum Leben zuständig, nicht aber zur Wahrheit. Und dem Leben gegenüber ist keine der beiden Bewusstseinsarten »wahrer« sondern es besteht nur ein Unterschied ihrer Bedeutung für dasselbe. <fr 56>


Die höchste Kategorie der Weltgeschichte, um die Einsinnigkeit des Geschehens zu verbürgen, ist die Schuld. Jedes weltgeschichtliche Moment verschuldet und verschuldend. Niemals können Ursache und Wirkung für die Struktur der Weltgeschichte entscheidende Kategorien sein, denn sie können keine Totalität bestimmen. Die Logik hat den Satz zu erweisen, dass keine Totalität als solche Ursache oder Wirkung sein kann. Es ist ein Fehler der rationalistischen Geschichtsauffassung, irgend eine historische Totalität (das heißt einen Weltzustand) als Ursache oder Wirkung anzusehen. Ein Weltzustand ist dabei immer nur Schuld (mit Beziehung auf irgendeine späteren). Ob er auch verschuldet ist in Beziehung auf einen früheren (analog wie jedes mechanische Stadium Ursache und Wirkung ist) ist aber zu untersuchen. Leicht möglich, dass nicht. Nochmals: keine Totalität ist Ursache oder Wirkung, keine Ursache oder Wirkung Totalität. Das heißt eine Totalität kann ein Ursache-Wirkung-System in sich enthalten, niemals aber durch dasselbe bestimmt definiert werden.

Die Relation zwischen Weltgeschichte und Gottesgeschichte ist methodisch zu erforschen und darzulegen durch die Erforschung der Reihe der historischen Zahlen.

»Moralphilosophie« ist eine dumme Tautologie. Moral ist nichts anderes als die Brechung der Handlung in der Erkennbarkeit; etwas aus dem Bezirk der Erkenntnis. Nicht ist Moral: Gesinnung. <fr 65>


Die Naturgeschichte erreicht den Menschen nicht, die Weltgeschichte ebenso wenig, sie kennt nur das Individuum, der Mensch ist weder Phänomen noch Wirkung sondern Geschöpf. <fr 66>


Das Soziale ist in seinem jetzigen Stande Manifestation gespenstischer und dämonischer Mächte, allerdings oft in ihrer höchsten Spannung zu Gott, ihrem aus sich selbst Herausstreben. Göttliches manifestiert sich in ihnen nur in der revolutionären Gewalt. Nur in der Gemeinschaft, nirgends in den »sozialen Einrichtungen« manifestiert sich Göttliches gewaltlos oder gewaltig. (In dieser Welt ist höher: göttliche Gewalt als göttliche Gewaltlosigkeit. In der kommenden göttliche Gewaltlosigkeit höher als göttliche Gewalt.) Dergleichen Manifestation ist nicht in der Sphäre des Sozialen, sondern der offenbarenden Wahrnehmung und zuletzt und vor allem der Sprache, zuallererst der heiligen zu suchen. <fr 73>

Quelle: Walter Benjamin, gesammelte Schriften, Bd. 6, Fragmente vermischten Inhalts, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1985

Ein Gedanke zu „Wahrheit und Wirklichkeit

  1. J. Weber

    Frage: Was ist Wahrheit?

    Antwort:
    Wahrheit ist das Ewig-Unveränderliche! Das sich in seiner Form niemals verwandelt, sondern so ist, wie es schon ewig war, und immer bleiben wird, wie es jetzt ist. Das deshalb auch nie einem Fortschritt unterworfen werden kann, weil es von Anfang an vollkommen war. Wahrheit ist tatsächlich, sie ist „seiend“! Seiend allein ist wahres Leben. Das ganze Weltall ist an diese Wahrheit „angelehnt“! —

    Deshalb ist auch nur das, was aus der Wahrheit kommt, auch wirklich lebend, alles andere ist der Verwandlung unterworfen durch den Tod. Aus diesem Grunde wird nur das, was aus der Wahrheit kommt, allein bestehen bleiben, und alles andere vergehen. Bestehen bleibt zuletzt allein das Wort des Herrn, das aus dem Lichte und der Wahrheit kommt, und nur von Gottgesandten gebracht werden kann, die selbst im Lichte und der Wahrheit stehen, also in sich wirklich lebend sind! Kein Menschengeist, kein jenseitiger Geist ist in der Lage, dies zu tun. Er hat gar keine Möglichkeit dazu. Aus diesem Grunde kann von Menschensinn Erdachtes und von Menschengeist Erkanntes niemals wahres Leben in sich tragen. Es bleiben Theorien und Erkenntnisse, denen die Kraft lebender Wahrheit fehlt.

    Zum Leben erwecken durch das Wort heisst: Zum Erkennen der Wahrheit erwecken! Wie man den Schlafenden zum Tag erwecken kann, so wird der geistig Tote zum Erkennen der Wahrheit durch das lebendige Wort erweckt. Gleichwie nun der vom Schlaf zum Tag Erweckte aber niemals der Tag selber werden kann, so wird auch der vom Geistestod zu der lebenden Wahrheit Auferweckte damit nicht gleichzeitig selbst das Leben! Ihm werden nur die Augen zur Erkenntnis dieses Lebens aufgetan. Er kann nie selbst zum Leben, zu der Wahrheit werden, sondern nur auf ihren Bahnen wandeln! Sie werden Auferweckte.

    Auch hierbei ist das Christuswort mit anzuwenden: „Lasst die Toten ihre Toten begraben!“ Das heisst: Lasst die vielen Führer und Lehrer seinwollenden Menschen weiterhin die Menschen belehren, welche durchaus auf sie hören wollen und sich damit systematisch dem lebendigen Worte verschliessen. Lasst diese toten Führer mit ihren toten Worten die toten Hörer ruhig für immer begraben, und sie damit ausschliessen von der Möglichkeit einer Erweckung. Höret Ihr aber, die Ihr ernsthaft sucht, nicht auf diese!

    Es sind damit nicht etwa nur die vielen Sekten und Vereinigungen gemeint, sondern auch die falschen Dogmas aller grossen Religionen. Es ist zur Zeit keine Gemeinde, welche den wirklich wahren Weg befolgt. Über die auf rechter Bahn durch Menschenklugheit so vielfach ganz falsch angebrachten Wegweiser hilft weder Eifer noch Begeisterung hinweg. Wer ihnen traut, wird das Ziel auch bei der besten inneren Veranlagung niemals erreichen.

    Was in dem damit Gesagten liegt, das wird ein Jeder finden, der sich redlich darum müht. Doch es erfordert tiefes Nachdenken, selbstloses Forschen. Für schon Wissendseinwollende und für Oberflächlichkeit ist solches nicht!

    Antworten

Schreibe einen Kommentar zu J. Weber Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.