Welt und Zeit

1) WELT und Zeit

In dem Offenbar-Werden des Göttlichen ist die Welt – der Schauplatz der Geschichte – einem großen Dekompositionsprozeß, die Zeit – das Leben des Darstellers – einem großen Erfüllungsprozeß unterworfen. Der Weltuntergang – die Zerstörung und Befreiung einer (dramatischen) Darstellung. Erlösung der Geschichte vom Darstellenden. / Aber vielleicht ist in diesem Sinne der tiefste Gegensatz zu »Welt« nicht »Zeit« sondern »die kommende Welt«.

2) Katholizismus – Prozeß des Heraufkommens der Anarchie. Das Problem des Katholizismus ist das der (falschen, irdischen) Theokratie. Der Grundsatz ist hier: echte göttliche Gewalt kann anders als zerstörend nur in der kommenden Welt der Erfülltheit) sich manifestieren. Wo dagegen göttliche Gewalt in die irdische Welt eintritt, atmet sie Zerstörung. Daher ist in dieser Welt nichts Stetiges und keine Gestaltung auf sie (zu) gründen, geschweige denn Herrschaft als deren oberstes Prinzip. (Im übrigen vgl. die Notizen zur Kritik der Theokratie)

In dieser Welt ist höher: göttliche Gewalt als göttliche Gewaltlosigkeit.
In der kommenden göttliche Gewaltlosigkeit höher als göttliche Gewalt.

3) a Meine Definition von Politik: die Erfüllung der ungesteigerten Menschhaftigkeit

b Es darf nicht heißen: durch die Religion erlassne, sondern muß heißen durch sie erforderte Gesetzgebung des Profanen. Die mosaischen Gesetze gehören wahrscheinlich ausnahmslos nicht zu ihr. Sondern diese gehören der Gesetzgebung über das Gebiet der Leiblichkeit im weitesten Sinne an (vermutlich) und haben eine ganz besondere Stellung; sie bestimmen Art und Zone unmittelbarer göttlicher Einwirkung. Und ganz unmittelbar da wo diese Zone sich ihre Grenze setzt, wo sie zurücktritt, grenzt das Gebiet der Politik, des Profanen, der im religiösen Sinne gesetzlosen Leiblichkeit an.

c Die Bedeutung der Anarchie für den profanen Bezirk ist aus dem geschichtsphilosophischen Ort der Freiheit zu bestimmen. (Schwieriger Erweis: hier scheint die Grundfrage der Zusammenhang von Leiblichkeit und Individualität)

4) Das Soziale ist in seinem jetzigen Stande Manifestation gespenstischer und dämonischer Mächte, allerdings oft in ihrer höchsten Spannung zu Gott, ihrem aus sich selbst (H)erausstreben. Göttliches manifestiert sich in ihnen nur in der revolutionären Gewalt. Nur in der Gemeinschaft, nirgends in den »sozialen Einricht(ung)en« manifestiert sich Göttliches gewaltlos oder gewaltig. (In dieser Welt ist höher: göttliche Gewalt als göttliche Gewaltlosigkeit. In der kommenden göttliche Gewaltlosigkeit höher als göttliche Gewalt.) Dergleichen Manifestation ist nicht in der Sphäre des Sozialen, sondern der offenbarenden Wahrnehmung und zuletzt und vor allem der Sprache, zuallererst der heiligen zu suchen.

5) a Es handelt sich nicht um »Verwirklichung« der göttlichen Gewalt. Dieser Prozeß ist einerseits selbst die höchste Wirklichkeit und die göttliche Gewalt andrerseits hat ihre Wirklichkeit in sich. (Schlechte Termini!)

b Die Frage nach der Manifestation ist zentral

c »Religiös« ist Unsinn. Zwischen Religion und Konfession besteht kein wesentlicher Unterschied, aber das letzte ist ein enger, in den meisten Zusammenhängen unzentraler Begriff. (fr 73)

Quelle: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band VI, Frankfurt M. 1985, S. 98-100