Zeitzeugen

Menschen berichten über Walter Benjamin

Hier werden nach und nach Dokumente, Berichte und Zeugnisse von Freunden, Kollegen und Zeitgenossen versammelt.

Gedicht von Berthold Brecht zum Tode Walter Benjamin

An Walter Benjamin der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte

Ermattungstaktik war’s, was dir behagte
Am Schachtisch sitzend in des Birnbaum Schatten
Der Feind, der dich von deinen Büchern jagte
Lässt sich von unsereinem nicht ermatten.

Zum Freitod des Flüchtlings W. B.

Ich höre, dass du die Hand gegen dich erhoben hast
Dem Schlächter zuvorkommend.
Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend
Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben
Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten

Reiche stürzen. Die Bandenführer
Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker
Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen.

So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest.

Asja Lacis, Revolutionär im Beruf:

Zitat von Benjamin aus einem Brief an Asja Lacis aus dem Jahre 1934:

Asja Lacis

Asja Lacis, 1920

„In der sehr schlechten Lage, in der ich bin, macht es den Leuten Spaß, billige Hoffnungen in mir zu erwecken. Man wird daher gegen Hoffnungen so empfindlich wie ein Rheumatiker gegen Zugluft. Es ist sehr angenehm, einen Menschen zu wissen, der unter solchen Umständen keine Hoffnungen macht und wäre es auch nur weil er zu faul zum Brief schreiben ist. Dieser Mensch bist du also und du stehst damit auf einem der wenigen befestigten erhöhten Plätze, die es in meiner ziemlich überschwemmten ›Seele‹ noch gibt. (…) Die Umstände, die meinen Aufenthaltsort von unvorhersehbaren Kombinationen abhängig machen, erschweren eine große Arbeit auf lange Sicht sehr. Noch mehr wird sie durch die Desorganisation des Marktes erschwert, die nur noch der Belletristik einigen Spielraum übrig gelassen hat. (…) Mein Sohn verlässt jetzt Deutschland und wird in Italien zur Schule gehen. Dagegen bin ich nicht mehr bei meiner Frau – das war auf die Dauer zu schwierig. Werde wohl jetzt nach Paris gehen.“
(Quelle: Asja Lacis: Revolutionär von Beruf. Berichte  über proletarisches Theater, über Meyerhold, Brecht, Benjamin und Piscator, herausgegeben von Hildegard Brenner, München 1976)

Erläuterung von Ronald Engert:

Die billigen Hoffnung beziehen sich unter anderem auf Max Horkheimer, der Benjamin gegen Ende 1934 ein amerikanisches Stipendium in Aussicht gestellt hatte. Die Hoffnungen darauf zerschlugen sich jedoch. Man liest aus diesen Zeilen die Verzweiflung Walter Benjamins über seine prekäre wirtschaftliche und auch berufliche Situation heraus. Diese Verzweiflung betrifft aber auch seine Seele. Es ist ein tiefer Schmerz der Unsicherheit und Einsamkeit, der ihn auch in den folgenden Jahren niemals verlassen hat und wohl mit ein Grund für seinen Selbstmord darstellt. Die Situation an der spanischen Grenze war nur der Höhepunkt dieser verzweifelten Lage, die aus dem politischen und wirtschaftlichen Wahnsinn dieser Zeit resultierte. Er musste im Exil als Vertriebener ohne Arbeit und ohne Sicherheit überleben.
Sein Blick ist durch die marxistische Theorie geprägt, wenn er die Desorganisation des Marktes erwähnt. Auch er als Schriftsteller und Philosoph unterliegt den Marktgesetzen des Kapitalismus. Dies ist nicht weniger als existenziell. Auch der Philosoph ist gezwungen, seine Produkte auf dem Markt feil zu bieten und sie zu verkaufen.
Die Beziehung zu seiner Frau war schwierig. Dies weist auf seine private Situation hin, in der er leider auch auf der zwischenmenschlichen Ebene wenig Glück hatte. Dieser Brief ging an Asja Lacis, höchstwahrscheinlich die größte Liebe seines Lebens, die aber unerfüllt blieb. Lacis entschied sich für ihren Ehemann, Bernhard Reich. Asja war eine faszinierende Frau, eine sowjetische Kommunistin, die bereits in den 1920er Jahren ein sehr emanzipiertes, selbstbewusstes Leben führte und als Frau damit eine extreme Avantgarde darstellte. Sie hat Benjamin den Zugang zur kommunistischen Theorie gegeben. Die kommunistische Theorie beruht auf dem historischen dialektischen Materialismus. Dieser besagt kurz gefasst, dass die materiellen Bedingungen entscheidend für das Bewusstsein und die geistige Entwicklung des Menschen sind und die reale Situation eines Menschen nur von seiner materiellen Situation her erklärbar ist. Wenn der Mensch dem freien kapitalistischen Markt unterworfen ist, dann hängt sein Schicksal von diesem Markt ab und das entscheidet über sein Glück und Leid. So ist zum Beispiel Benjamin als Schriftsteller dem „desorganisierten Markt“ ausgesetzt, der ihm ein stabiles Einkommen unmöglich macht. Hier liegt die Ursache für seine psychische Situation, seine Verzweiflung. Es liegt dann gerade nicht an dem einzelnen Individuum alleine, ob es Erfolg hat oder nicht, und Scheitern oder Erfolg ist dann keine psychologische oder idealistische Frage, sondern eine politisch-ökonomische und materialistische.

 

2 Gedanken zu „Zeitzeugen

  1. Pingback: Kon/Spiral

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